Weshalb ist der Ödipuskomplex nach einem tragischen Helden benannt? Weshalb bezeichnet Freud die Psychoanalyse als ein 'kathartisches Verfahren'? Und was hat es mit den zahlreichen literarischen Zitaten in seinen Schriften auf sich? Wer diese Fragen zu beantworten sucht, bewegt sich in einem Feld jenseits der psychoanalytischen Literaturwissenschaft. Es geht dann nicht um Freudsche Interpretationen von Dichtung, sondern um den Einfluss der Dichtung im Werk Freuds. Dabei ist allerdings das seit Lacan etablierte Paradigma vom 'tragischen' Charakter der Psychoanalyse zu hinterfragen. Gerade am Beispiel der klassischen Tragödie zeigt sich, dass Freuds Verhältnis zur Dichtung höchst ambivalent war. Von der 'Traumdeutung' (1900) über 'Totem und Tabu' (1912/13) bis zu 'Massenpsychologie und Ich-Analyse' (1921) lässt sich eine langjährige Beschäftigung verfolgen, in deren Zuge Freud sich von der mit Sophokles und Aristoteles verbundenen Tradition distanziert und eine radikale Re-Lektüre der alten Texte entwickelt. Wenn er sich dabei u. a. mit Shakespeare, Lessing, Schiller, Hebbel und Nietzsche auseinandersetzt, so werden die Konturen einer literarischen Vorgeschichte erkenntlich, aus der die Psychoanalyse hervorgeht und an der sie sich abarbeitet.
Tan Wälchli Libros


AURA ist der erste Band von whyart, einem dreiteiligen Kunstbuchprojekt von Aude Lehmann und Tan Wälchli (Zürich). Das Projekt zielt darauf ab, drei im aktuellen Kunstdiskurs häufig verwendete, jedoch nicht klar definierte Begriffe – Aura, Glamour und Mode – theoretisch präzise zu bestimmen. Jeder Band widmet sich einem Begriff und rekonstruiert dessen historische Herausbildung und Verwendung, untermauert mit reichhaltigem Bildmaterial aus der Kunst- und Kulturgeschichte. Die Frage nach der Aura, die Walter Benjamin aufwarf, wird oft so interpretiert, als hätte er den Begriff neu in die Kunstphilosophie eingeführt. Benjamin selbst bezeichnete seine Begriffe jedoch als „Segel“, die in den „Wind der Geschichte gesetzt“ werden müssen. Im Fall der Aura, ursprünglich vom Griechischen ins Lateinische übernommen, bezeichnete der Begriff „Luft in Bewegung“ und später den „ausgehauchten Atem der Toten“. In der frühen abendländischen Kunstgeschichte erscheint er als Heiligenschein. Diese Bedeutung scheint im Zuge der Säkularisierung in den Hintergrund gedrängt worden zu sein, was ein kurzer Parcours durch die Kunstgeschichte zeigt. Eine neue Darstellungsweise ermöglicht es, die wandelnden Gestalten der Aura nachzuvollziehen und die kanonischen Werke neu zu lesen, wodurch wir Benjamins Ziel näherkommen, die Gegenstände „aus ihrer Hülle zu entschälen“ und die Aura zu „zertrümmern“.