Anstatt den Wahnsinn innerhalb eines Diskurses abendländischer Vernunft zu marginalisieren und ihn als ein nicht gedachtes Negatives im Denken wegzusperren, siedelt Maldiney ihn im Zentrum seines philosophisch-anthropologischen Fragens an. Dem Wahnsinn kommt dabei die Aufgabe zu, über das Wesen des Menschseins Auskunft zu geben. In der Krise der aufkommenden Psychose sucht er diejenigen Kräfte zu denken, welche die eigene existentielle Plastizität zugleich bedrohen und aufrechterhalten. Hierbei stützt sich Maldiney auf die Phänomenologie, die Psychoanalyse und andere Disziplinen. Die von ihm aufgeworfenen Fragen zu Philosophie und Psychiatrie stehen in einem ebenso kritisch wie erhellenden Bezug zur deutschsprachigen Bewegung phänomenologischer Psychopathologie.
Henri Maldiney Libros



Nach den 6 Bänden Münsterlinger Kolloquien, die die Weiter- und Fortbildungsveranstaltungen des Psychiaters Roland Kuhn dokumentieren, folgt nun der einzigartige Briefwechsel zwischen ihm und dem französischen Philosophen Henri Maldiney. Obwohl Maldiney im deutschen Sprachraum kaum bekannt ist, war er eine beeindruckende Gestalt, vergleichbar mit Hans-Georg Gadamer. Ihre Begegnung 1953 in Kreuzlingen bei Ludwig Binswanger und der anschließende Briefwechsel von 1953 bis 2004 wurden zu einem prägenden Ereignis in ihrem Leben. Der Briefwechsel ist ein Lebenszeugnis in Deutsch und Französisch und individualisiert die beiden durch ihre Interaktion. Kuhn bezeichnete diese Korrespondenz als „wissenschaftlich“. Maldiney wandte sich zunehmend den Fragen der Psychiatrie zu, während Kuhn philosophische Fragestellungen aus seiner Erfahrung heraus betrachtete. Diese Begegnung öffnete Maldiney für die ästhetische Dimension aller Sinne und verband chinesische Malerei mit Poetik. Kuhn wird von Maldiney als „der einzige, wahre Leser“ beschrieben, während seine lakonische Prägnanz Maldiney inspiriert. Ihr außergewöhnlicher Briefwechsel, der im 20. Jahrhundert seinesgleichen sucht, verdeutlicht, dass Begegnung oft auf des Messers Schneide stattfindet.
Verstehen
Mit einem Vorwort von Bernhard Waldenfels
Maldiney geht es beim Begriff des Verstehens weder um den Gegenbegriff zum Erklären noch um das Verstehen als eine Grundkategorie des Daseins im Sinne der Hermeneutik. Er versteht das Verstehen gleichsam praktischer, als Zugang zur Welt, der zwischen Heideggers fundamentalontologischer Daseinsanalytik und einer Freud zugeschriebenen naturalistischen Verengung der Psychoanalyse hindurch führt. Das Grundmotiv des Verstehens verbindet sich mit dem der Wahrnehmung. Ein Beispiel der Erprobungsfelder für ein Verstehen, das dem Unverständlichen Raum gibt, liefert die Psychoanalyse: Die Traumanalyse versteht tendenziell den Sinn einer Existenz, »die sich in ihrem Erscheinen verbirgt«. Von Maldineys Verstehensbegriff fällt auch ein erhellendes Licht auf klassische Themen wie Identifizierung, Widerstand und Übertragung. Wie bei Lacan hat es das Verstehen imgrunde immer mit Formen einer gelebten Unmöglichkeit zu tun. Berhard Waldenfels resummiert im Vorwort: »Es macht den besonderen Reiz dieses Textes aus, dass der aus der aus der Phänomenologie und Hermeneutik, aus Psychoanalyse und Psychopathologie gewonnene Grundriß nach allen Seiten hin überschritten wird. Dies führt zu Ausflügen in die Tierwelt, in die Welt des kindlichen Spiels, in die Bild- und Dichtkunst. Wir stoßen auf die Strichführung bei Klee und Kandinsky, wir geraten in die fremdartige Eingangsszene von Kafkas Schloss ... «