Bedenkt man, wie vielen Versuchungen und Anfechtungen ein Mensch tagtäglich ausgesetzt ist, will es wie ein Wunder erscheinen, dass er dem etwas entgegenzusetzen hat. Bei aller Schlechtigkeit, die dem Menschen eignet, lässt er sich doch in der Regel vom Guten leiten. Woher kommt der Widerstand in uns? Ist er das Werk von Erziehern, die auch heute noch, aller routinierten Skepsis zum Trotz, so machtvoll in uns wirken, dass wir uns auf den ausgesetzten Pfaden des Lebens zurechtfinden? Oder sind wir selbst es, die sich, wie Oliver Twist, der fast nie etwas Gutes sah und trotzdem zum Guten fand, an der Hand nehmen, sich selber führen? Man wird selbsterzieherische und fremderzieherische An-teile nicht auswiegen können. Klar ist nur, dass auch gut erzogene Menschen Böses tun und schlecht erzogene Men-schen Gutes. Erziehung stößt an Grenzen. Und die Angewiesenheit auf Gnade, die einem Einzelnen zuteil werden muss, damit er sich sammeln kann, ist nur um den Preis des Hochmuts zu bestreiten. So behält der alte Traum von der Erziehung des Menschengeschlechts einen fahlen Beigeschmack: Erziehen lassen sich allem Anschein nach nur Einzelne – und auch diese nur begrenzt.
Martin Knechtges Libros






Das gemessene Band
Kulturkritik & Paideia
Was wir uns hierzulande gestatten, als Autorität anzuerkennen, hat in der Regel mit ökonomischem Erfolg und politischer Macht mehr zu tun als mit der Befähigung und Begnadung des erzieherischen Menschen. Wohin ist der Sinn für jenes außerhalb des Menschen liegende Maß entschwunden, welches unser Leben lenken könnte? Das beklagenswerte Los einer Lehrerschaft, das sich hinter dem Pseudonym des Bildungsbegleiters verbirgt, kann nicht als Unfall bezeichnet werden, sondern weist auf ein problematisches Verständnis der conditio humana. Obwohl kaum ein anderes Wort im öffentlichen Raum so sehr strapaziert wird wie das der Humanität, wird das Inferiore des Menschen, seine Verletzlichkeit und Angst, nicht in dem Maße gewürdigt, wie es zur Wahrscheinlichmachung einer starken Person nötig wäre. Hier darf die Asymmetrie in der Begegnung von Lehrer und Schüler, Wissendem und Lernendem nicht geleugnet werden, sie muss vielmehr anerkannt und mit Achtung durchwirkt werden. »Das gemessene Band. Kulturkritik & Paideia« enthält Bei-träge von Anthony Carty, Norbert Hummelt, Stephan Steiner, Konrad Weiss u. a.
Da mag von der Rückkehr der Religion noch so sehr die Rede sein: Dem Glaubenden, der nach dem Heiligen Ausschau hält, weht im liberalen Gemeinwesen ein profaner Wind entgegen, der ihn stören muss. Dabei sind es nicht die inneren Überzeugungen geistig beweglicher Atheisten, die seine religiöse Lebens-führung behindern. Mit intellektuellen Atheisten, die an sich selbst zweifeln, kann er ins Gespräch kommen. Es ist die zum Dogma erstarrte a-religiöse Gesamttendenz unserer Kultur, die ihm zum Problem geworden ist. Denn in ihrem Sog werden alle Phäno-mene des Lebens unbedacht profan gedeutet. Da-durch sind die Glaubenden genötigt, ihre religiösen Überzeugungen in der Öffentlichkeit zurückzuhalten und sie zu einer bloßen Privatsache zu degradieren. Mit dieser Zumutung leben sie unter den kulturellen Bedingungen einer zementierten laïcité.
Es war ein langer und steiniger Weg, bis sich die Menschen Räume erschlossen hatten, die nicht unter dem Gesetz der physischen Selbsterhaltung standen, sondern Platz für freie geistige Tätigkeit, für Kontemplation oder Müßiggang boten. Inzwischen scheinen jene Sphären, die den Dingen um ihrer selbst willen eine Berechtigung zugestehen und dem Geist bzw. der Kunst günstige Wachstumsbedingungen schaffen, wieder zusammenzuschrumpfen. Andererseits gibt es gerade in unserer Zeit, wie diese Sonderedition der FUGE beweist, hervorragende Köpfe, die ihren geistigen oder geistlichen Lebensraum behaupten.
Der Glaube an den Menschen hat im 20. Jahrhundert empfindliche Schläge erlitten. Wer heute in alten Texten Hymnen auf den Menschen liest, als schönen, starken und zärtlichen Sieger, als selbstlos Liebenden, als Mitleidenden, der allen Menschen der Welt ein Bruder und Helfer sein möchte, den werden, je nach Neigung, entweder nostalgische Gefühle überkommen oder zynische Bitterkeiten überfallen. Mindestens werden sich ihm jedoch Zweifel auftun. Das obsessive öffentliche Gerede von der menschlichen Würde, dem bezeichnenderweise kaum ein angemessenes Bild vom Menschen gelingen will, steht dabei meist unverbunden und abstrakt neben der Sehnsucht, den Sinn der menschlichen Existenz zu verstehen und ihr etwas Erhabenes abzugewinnen. Und so drohen zuletzt selbst die zarten Erfahrungen mit menschlicher Hinwendung vernutzt zu werden. Vielleicht lässt sich jedoch die wie verschleiert scheinende »imago dei« lüften, wenn der Blick auf die tragische und strebsame Größe des Menschen fä Der Mensch ist ein Sünder, aber er kann sich, auch wenn er sich ihr nicht endgültig zu entwinden vermag, aus der Verstrickung heraus zu höheren Früchten strecken.
Die hohe Wertschätzung, ja der Glaube an Institutionen gehört zu den unverkennbaren Merkmalen der Moderne. Die Vorteile liegen auf der Hand. Wo Institutionen mit festgeschriebenen Regeln die Beziehungen der Menschen untereinander regeln, entstehen Räume, in denen das unkontrollierbare Herrschaftsgebaren Einzelner keinen großen Schaden anrichten kann. Zugleich aber wissen offenherzig Suchende die ausrichtende Empfehlung von Berufenen, die über die sachdienliche Nutzung von Datenbanken hinausreicht, zu schätzen. Wenn sich Bewunderung, Begeisterung, Entzündung an einem Gegenstand der Wissenschaft oder Kunst ereignen, leuchtet ein Versprechen auf und Eros betritt die Bühne. Wo immer er uns begegnet, herrscht Ausnahmezustand: Schönste Erfahrungen des Ergriffenseins und der lebendigen Weitergabe von Gütern des Geistes gehen auf sein Konto. Doch ist ihm deshalb schon zu trauen? Dürfen wir ihm freies Geleit geben? Immerhin steht er nicht ganz zu Unrecht in dem Ruch, sexuelle Versuchungen zu befördern.
Das Journal FUGE befasst sich undogmatisch mit der Rolle der Religion in der Moderne. Es rangiert zwischen Wissenschaft und Feuilleton und verfolgt das Ziel, den religiösen Eros der Nachdenklichen zu wecken. Intellektuelle unterschiedlicher weltanschaulicher Couleur kommen zu Wort, darunter Theologen und Philosophen, Wissenschaftler und Künstler, Gläubige und Atheisten. Dabei geht es darum, die widerstrebenden Neigungen in der Brust des modernen Menschen einer schonungslosen Analyse zu unterziehen, um dem Rätsel auf die Spur zu kommen, ob ein gedeihliches religiöses Leben unter den aufgeklärten Bedingungen möglich ist oder ob Religion, wie die jüngst erstarkte gegenaufklärerische Tradition behauptet, in einer unversöhnlichen Spannung zur Moderne steht. Der erste Band fragt, was es mit der neuerdings so viel beschworenen Rückkehr der Religionen auf sich hat. Hierbei zeigt sich, dass diese Frage nicht beantwortet werden kann, wenn man nicht zurückgeht auf das westliche Dilemma zwischen Religion und Politik, das am Anfang der Moderne steht. Die neue Sichtbarkeit der Religion ist kein Indiz dafür, dass der Glaube in der Moderne angekommen ist. Im Gegenteil, sie fordert dazu heraus, darüber nachzudenken, ob der Religion nicht das Schicksal droht, ihrer Ernsthaftigkeit beraubt und auf dem Altar der alles absorbierenden Öffentlichkeit geopfert zu werden.