gierstabil
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Gedichte
Die Gedichte wollen mit jemandem sprechen: mit Geistern, mit Maschinen, mit Dir. Die Gedichte wollen von toten Menschen sprechen, die sie vermissen, und davon, wie das kleine Kind riecht, bevor es einschläft. Die Gedichte wollen Beschimpfungen enthalten und ebenso Elternabendvokabular. Die Gedichte enthalten unter anderem Bibliothekarinnen auf der Jagd, Könige, denen Krokodile aus der Nase tropfen, Fickgelegenheiten, einen Erbsenkoch im Ultrawahn und Blumenmasken. Die Gedichte wollen Worte aufnehmen, die in anderen Gedichten keine Zuflucht finden, beispielsweise das Wort Saugglockenaubergine für den Kopf eines Neugeborenen. Die Gedichte nehmen Worte auf, die Menschen auf Facebook dezidiert hässlich und überdies unangemessen finden; sie finden das fucking wunderbar. Die Gedichte wollen sich gerade etwas wünschen, als ein Martinshorn sie unterbricht. Die Gedichte halten sich die Ohren zu und wünschen sich, dass dieser Junge, der seit 27 Jahren als Altenpfleger arbeitet und in dieselbe Provinzgrundschule wie sie gegangen ist, sie lesen kann, wenn er traurig ist. Die Gedichte stehen an einer roten Ampel und flüstern in ein Smartphone und dann schreien sie. Die Gedichte wollen ausgelacht werden. Den Gedichten ist inzwischen einiges scheißegal, was ihnen vor Jahren nicht scheißegal war. Die Gedichte haben keine Lust mehr, beschnitten zu werden. Die Gedichte sind vielleicht eine Hecke, aber sicher nicht aus Buchsbaum. Die Gedichte enthalten Kalauer wie geflüchtete Kanarienvögel. Die Gedichte sind keine Hecke, sondern ein Körper; sie gehen langsam aus dem Leim. Die Gedichte wollen im Körper bleiben, der mit ihnen aus dem Leim geht, die Gedichte wollen aus dem Körper raus und in eine Kokosquelltablette. Die Gedichte wuchern. Die Gedichte wachsen ihrem Irrlicht hinterher: in Tiraden. - Katharina Schultens
Sibyllen und Propheten sagten zur Gegenwart wahr und Zukünftiges voraus. Sie nahmen kritisch Bestand auf, mahnten und warnten vor dem, was käme. Dazu wussten sie sich von ihrem Gott berufen. Sie waren auserwählt, charismatisch, göttlich inspirierte Seher*innen. Waren die Sibyllen – ob sie wirklich existierten oder nur literarisch-mythische Figuren sind, ist ungewiss – der griechisch-römischen Antike von Apollon erfüllt, so sprachen sie Orakel in archaischer Ekstase. Die christlichen Sibyllen waren weniger wild, doch wie die Sprüche der heidnischen so sind auch ihre Heilsankündigungen und Unheilsprognosen Dichtung. Die Texte sind überliefert in Literatur und Philosophie und auf Bildern. Auch auf den Bilderzyklen „Sibyllen und heidnische Propheten“, die Ludger tom Ring d. Ä. (1496–1547) und sein Sohn Herman (1521–1597) im 16. Jahrhundert für den Paulus-Dom in Münster malten, erscheinen die überlieferten Texte. Die Anthologie „Sibyllen & Propheten. Triggerpunkte tom Ring“ versammelt neue literarische Originalbeiträge zu diesen beiden Zyklen sowie früher entstandene Gedichte von Thomas Kling. Auf Einladung der GWK – Gesellschaft für Westfälische Kulturarbeit aus Anlass ihres 60. Geburtstags 2017 wurden die Bilder Auslöser einer neuen literarischen Auseinandersetzung mit ihnen. Nachfahren und Erben der Sibyllen und Propheten heute sind die Dichter*innen – vielleicht alle, vielleicht manche? – ebenso wie jene Intellektuellen, die um der Zukunft willen ihre Stimme öffentlich gegen die Exzesse der Gegenwart erheben, zuletzt Katharina Hacker, Hendrik Jackson, Georg Leß, Hendrik Rost, Jan Skudlarek und Charlotte Warsen.
Gedichte
in einem februar, im winter vor einem frühjahr, in dem mein vater starb, vor einem sommer, in dem mein kind kam, ist mir ein schwan im haff festgefroren. jetzt schwimmt er im warmen kanal. kommt er an land, ist er clumsy, watschelt auf schwarzen füßen daher. diverse tierarten folgen ihm, es ist ein einziges gefiedertes desaster, eine monsterparade – aber manchmal, manchmal sind es starlings, summende schwärme, manchmal fliegen sie von allein in formationen, eine murmuratio/n – und mein schwan dreht eine runde vor der brücke, schaut halb mordlustig und halb sehnsüchtig hinterdrein, als ob es drohnen wären und er hätte ihre fernsteuerung verschluckt. ich atme sein wesen ein, wenn ich schreibe, ich atme es aus. ich bin ein chor, der sich einsingt, und ein raum, der hallt. ich bin unzählig und nicht vorhanden. ich spreche mit euch: ich bin mein monster und ihr seid seine variationen. – Katharina Schultens
Zu Marina Zwetajewa
Katharina Schultens, geboren 1980, arbeitet seit 2006 an der Humboldt-Universität zu Berlin. Neben zahlreichen Veröffentlichungen in Zeitschriften und Anthologien erschienen von ihr die Gedichtbände Aufbrüche, 2004, gierstabil, 2011 und gorgos portfolio, 2014.
„versuche wagnis und intensität und keine befürchtungen. versuche ist bereits der falsche ansatz. // ich bin altmodisch, schrieb ich unlängst einem freund, ich glaube nicht nur an autorschaft und das subjekt und den geteilten gleichklang und die erkenntnis, ich glaube sogar an so etwas wie wirkung. jetzt stell dir das doch bitte mal vor!“ Katharina Schultens.
Eine Abrechnung mit privaten Ressourcen
Die »Edition Poeticon« ist ein Forum für poetologische Reflexionen, eine Reihe zum Nach-, Um- und Weiterdenken. In der Lyrik eröffnen sich Erfahrungsmöglichkeiten eigener Art. Wie hängen sie mit den Begriffen zusammen, die unsere Diskurse bestimmen und unsere Lebenswelt prägen? Politik, Tradition, Liebe, Gewalt, Geschichte, Wissenschaft, Geschlecht, Tier, Musik, Gedächtnis, Natur oder Gesellschaft: Dies sind nur einige der Begriffe, die unser Weltverständnis leiten – und deren Bedeutungsumfang Lyrik austrägt, abbaut, erkundet und aufbricht. Sie werden als Themen und kulturelle Hintergründe, als Wirkungsfelder und Formquellen von zeitgenössischer Lyrik in der »Edition Poeticon« kritisch in den Blick genommen. Die Bände in offener Fadenknotenheftung versammeln Essays von Dichter_innen, die sich poetologisch auf die zeitgenössische Lyrik und jeweils ein Thema fokussieren. Mit der Zeit wird so ein Katalog an theoretischen Texten zu wichtigen Begriffen in poetischer Annäherung entstehen. Die »Edition Poeticon« wird herausgegeben von Asmus Trautsch und dem Verlagshaus Berlin.