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Horst Dieter Rauh

    Wittgensteins Mystik der Grenze
    Vögel des Himmels
    • Vögel des Himmels

      Gleichnis und Metamorphose

      Das kulturelle Gedächtnis überliefert unter zahlreichen Denkbildern auch biblische Metaphern; selbst in der Profankultur leben sie fort. Signifikantes Beispiel sind Naturbilder aus dem 6. Kapitel des Matthäus-Evangeliums: es geht um die Vögel des Himmels, die Lilien im Feld und das Gras. Das ursprünglich eschatologische Gleichnis wird seit der Romantik neu gelesen: Der Motivkomplex erlaubt vielfache Metamorphosen, verweist auf Sinnelemente in der Natur, inspiriert zu Wunsch- oder Drohbildern, zu Zeitkritik wie zu Fluchtfantasien. Die Vögel des Himmels werden zu Chiffren für kreative Freiheit und die Eskapismen des Individuums, die Lilien des Feldes zum Sinnbild des Widerstreits von Ethik und Ästhetik, das Weltreich des Grases zu einem Symbol, das für Vitalität wie für Vanitas steht. So reaktiviert die Moderne, der es an tragfähigen Symbolen fehlt, die biblischen Denkbilder auf ihrer Suche nach Sinnpotentialen. Einer sich entschieden profanierenden Kultur mit ihrer Ethik konsequenter Weltlichkeit, die gleichwohl ihre Defizite ahnt, senden sie weiterhin ihre Impulse. Vögel des Himmels –: die Metapher lebt.

      Vögel des Himmels
    • Die »Ethik« und das »Mystische« – Wittgensteins Chiffren für Unaussprechliches, der Logik Entzogenes – haben in der Betrachtung seines Werks wenig Beachtung gefunden. Für sein Philosophieren waren sie zeitlebens der geheime Stachel. Als »Mystiker der Grenze« entdeckte Wittgenstein, dass sich das Unaussprechliche als verborgene Schwelle noch durch unsere Alltagssprache zieht. Auf seine Art ein homo religiosus, betrieb er Denkarbeit als Askese und formulierte gerne in Gleichnissen – lebenslang unterwegs nach dem erlösenden Wort. Wahrheit ist reine Evidenz, sie spricht nicht, sondern zeigt sich, am Ende im sprachlosen Ausdruck.

      Wittgensteins Mystik der Grenze