'Den Gewerkschaften sind in dieser Gesellschaft kultureller Erosionen neue Funktionen in der Verteidigung unterdrückter und vielfach zerfaserter Interessen zugewachsen. Sie müssen sich mit der Umstrukturierung der betrieblichen Realität und der Vertretungsmacht in dieser Realitätsdimension gleichzeitig darauf einstellen, dass die Interessen der außerbetrieblichen Lebenszusammenhänge ihr gesellschaftspolitisches Mandat erheblich erweitern werden. Auf keiner dieser Ebenen, ob es nun betriebsnahe Tarifpolitik ist oder politische Bildungsarbeit oder die Mitbestimmungsproblematik über wirtschaftliche Vorgänge, wird künftig eine strategische Lösung möglich sein, die den Blick vom gesellschaftlich Ganzen abziehen und auf das isolierte Besondere konzentrieren kann. Gesellschaftstheoretische Reflexion in Zusammenhängen berührt das gewerkschaftliche Existenzinteresse.' Oskar Negt
Hilde Wagner Libros






Karl Wagner
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Es werden die massiven Veränderungsprozesse thematisiert, die sich in der Arbeitswelt, den industriellen Beziehungen und Arrangements in den letzten Jahrzehnten abgespielt haben. Die Arbeits- und Leistungsbedingungen der Beschäftigen zu verbessern, ist seit jeher eine der Kernaufgaben von Gewerkschaften. Seit dem Projekt „Humanisierung der Arbeit“ Anfang der 1970er Jahre hat sich die Situation in den Betrieben grundlegend verändert. Die Märkte sind umkämpfter, die Konkurrenz intensiver, Rendite- und Kostendruck größer geworden. Die Autorinnen und Autoren dieses Bandes spüren den markanten Veränderungen nach. Bei allen Unterschieden in den Einschätzungen vermitteln sie eine gemeinsame Botschaft: Die Beschäftigten und die Gewerkschaften müssen sich in die Gestaltung von Arbeit und Leistung in den Betrieben wieder stärker einmischen. Die Entwicklungen dürfen nicht den Arbeitgebern überlassen werden, wenn verhindert werden soll, dass überzogene Renditeorientierungen und Wettbewerbsprämissen noch stärker die Oberhand gewinnen. Es gilt, schlechte Arbeit abzuwehren, Retaylorisierung zurückzudrängen, Entgrenzungsprozesse zu stoppen. Ebenso entscheidend ist es, sich über Voraussetzungen und Rahmenbedingungen für „gute“, besser qualifizierte, stärker selbstgesteuerte, funktionsintegrierte, kooperative und mitbestimmte Arbeit zu verständigen und entsprechende arbeitspolitische Initiativen zu stärken.
Die im Buchitel gestellte Frage klingt paradox und bringt doch die Umwälzung der Verhältnisse auf den Punkt. Die abhängig Beschäftigten machen die Kapitalverwertung zu ihrer Sache. Statt Anweisungen des Unternehmers oder der Vorgesetzten Folge zu leisten, ist Selbststeuerung angesagt – zur Zufriedenheit des Kunden, zum Wohle des Unternehmens. Der Formwandel (auch in den Herrschaftsverhältnissen) wird als Ergebnis von zwei Entwicklungsprozessen beschrieben: zum einen der Vermarktlichung nicht nur der Geschäftsbeziehungen zwischen Unternehmen, sondern auch im Betrieb; zum anderen der Orientierung am Shareholder value. Vermarktlichung heißt, dass der Druck der Käufermärkte (hinsichtlich Qualität, Preis und Lieferzeit) direkt an die Beschäftigten weitergegeben wird. Diese Unmittelbarkeit steht im Kontrast zur Finanzialisierung der betrieblichen Prozesse durch die Orientierung am Ertrag für die Aktionäre. Aus den unterschiedlichen Logiken betrieblicher Organisation erwachsen neue Steuerungs- und Kostenrechnungssysteme. In diesem Buch werden sie an exemplarischen Beispielen vorgestellt und analysiert (DaimlerChrysler, Airbus, VW, IBM, SICK). Es wird danach gefragt, wie sie sich auf die Arbeits-, Arbeitszeit- und Leistungsbedingungen der Beschäftigten auswirken. Abschließend werden die arbeits-, gesundheits- und tarifpolitischen Handlungsalternativen von Betriebsräten und Gewerkschaften diskutiert.
Das deutsche Tarifsystem, über vier Jahrzehnte entwickelt, steht heute stark in der Kritik. Wirtschaftsvertreter, die die Tarifautonomie abschaffen möchten, finden Unterstützung in Politik, Medien und Wissenschaft. Sie sehen die Möglichkeit, durch die Auflösung des „Tarifkartells“ die Macht der Gewerkschaften in Deutschland zu schwächen. Gleichzeitig verändern sich die Grundlagen der gewerkschaftlichen Tarifpolitik grundlegend. Der „Markt“ beeinflusst nicht nur die Konkurrenz zwischen Unternehmen, sondern auch die industriellen Beziehungen vor Ort. Vermarktlichung und Verbetrieblichung prägen die Restrukturierungsprozesse. Rationalisierung und kontinuierliche Verbesserung stehen im Vordergrund, während die Entgrenzung der Arbeit zunimmt. Die Frage bleibt, ob neue Grenzen gezogen werden können. Unternehmen konzentrieren sich zunehmend auf ihr Kerngeschäft und werden dadurch 'verschlankt'. Traditionelle Arbeits- und Entlohnungsbedingungen geraten unter Druck. Im Shareholder-Kapitalismus differenziert sich die wirtschaftliche Entwicklung. Dies könnte eine zweistufige Tarifpolitik erfordern, die sich an ertragsabhängigen Kennziffern orientiert. Der Strukturwandel hin zu Dienstleistungen setzt sich fort, während die Organisation der Gewerkschaften in bestimmten Bereichen abnimmt und die Reichweite der Flächentarifverträge schwindet.