Die diskursanalytische Studie untersucht die innersubjektive Dimension von Sexualität in der Goethezeit, die im Kontext der fiktiven bürgerlichen Lebenswelt entsteht. Die geforderte moralische Vergeistigung des Körperlichen führt zu einer Verschiebung der Sexualität von sinnlicher Erfahrung hin zur Phantasie, die sowohl reale Geschlechtsbeziehungen präfiguriert als auch autoerotisches Begehren stillt. Während die Anti-Masturbationskampagne diese Erotisierung der Einbildungskraft als Zivilisationskrankheit diskreditiert, thematisiert die Literatur die Lust und das Leid an sexueller "virtual reality". Am Beispiel von Werther wird der romantisch-narzisstische Liebhaber analysiert, der die soziale Kontrolle über sexuelle Körper durch Phantasie überwindet, jedoch in seinen Einbildungen gefangen bleibt, was intersubjektive Liebe zunehmend ersetzt. Männliche Sexualität wird durch Selbstbezüglichkeit bedroht, während weibliche Sexualität der symbolisch-kulturellen Signifikation entzieht. Die literarische Darstellung von Frauensexualität schwankt zwischen der Entsagung und der Ausschweifung, wobei beiden Figuren erfüllende Sexualität verwehrt bleibt. In der Debatte über weibliche Romanlektüre wird die Erotisierung des Vorgestellten als geschlechtstypische Krankheit betrachtet. Zudem erscheint der eingebildete sexuelle Körper in der modernen Psychotherapie, wo E. T. A. Hoffmanns Poetisierung des Mesmerismus Figuren des Begehrens entwirf
Stephan K. Schindler Libros


Die sich auf sozialhistorische und poststrukturalistische Methoden stützende Arbeit untersucht die Herausbildung moderner (männlicher) Subjektivität im Rahmen der literarischen Erfindung von Kindheit zwischen 1740 und 1790. Mehr als einhundert Jahre vor Freud erhebt dieser Diskurs – greifbar vor allem in Autobiographie und Briefroman – die Familie zum Zentrum der Seelenbildung und produziert damit einen kindheitsorientierten Subjektbegriff mit all seinen Neurosen und Komplexen. Während im Wandel vom traditionellen Haushalt zur patriarchalischen Liebesehe Kindheit lediglich als defizitäres Stadium erscheint (Gellert), stilisieren autobiographische Romane (Jung-Stilling, Bräker, Moritz) sie zum Urgrund für die soziale, psychologische und imaginäre Identität ihrer Helden. Von der Propagierung eines aufgeklärten Erziehungspatriarchats gelangen diese Texte zu mehr und mehr mutterzentrierten Sozialisationsspielen. Diese Veränderung bringt eine neue Beziehung zwischen der ästhetischen Einbildungskraft und den familiären Einbildungen mit sich. Goethes Werther verwirft so seine eigene Familie und imaginiert sich eine neue, die ihm in der Mutter-Kind-Dyade das ewige Kindsein ermöglicht.